Equal Care Manifest
Am 19.05.2020 wurde das Equal Care Manifest vorgestellt, an dessen Erstellung UN Women Deutschland beteiligt war:
Als am 29. Februar 2020 der bundesweite Equal Care Day und die zentrale ECD-Konferenz in Bonn stattfanden, in deren Rahmen die Grundlage für dieses Manifests entstand, war kaum jemandem klar, dass wenige Tage später die Coronavirus-Pandemie mit voller Wucht die Welt und auch Deutschland treffen würde: Ihre Folgen machen deutlicher als je zuvor, wie systemrelevant Care-Arbeit ist.
Das Equal Care Manifest
Wir alle sind in unserem Lebensverlauf auf die fürsorgliche Zuwendung und Versorgung anderer angewiesen: Das gilt für Neugeborene ebenso wie für Kinder im Vor- und Grundschulalter, aber auch als junge Erwachsene, als Berufstätige, bei Krankheit oder Behinderung und schließlich als ältere Menschen profitieren wir im Alltag immer wieder von der Care-Arbeit anderer; Gesundheit, Wohlbefinden, Lebensqualität und gesellschaftliches Miteinander hängen davon ab.
Diese Care-Arbeiten und die Mental Load werden vor allem von Frauen und Mädchen getragen – unbezahlt oder unterbezahlt. Dadurch bleibt ihnen weniger, manchmal gar keine Zeit für Erwerbsarbeit, zur Aus- und Fortbildung, und sie verfügen deshalb über weniger oder kein eigenes Einkommen. Weltweit übernehmen Frauen täglich mehr als 12 Milliarden Stunden unbezahlte Sorgearbeit (Oxfam-Studie 2020). Würden diese auch nur mit dem Mindestlohn bezahlt, wäre diese Summe 24 Mal größer als der Umsatz der Tech-Riesen Apple, Google und Facebook zusammen. Und das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands würde um circa ein Drittel höher ausfallen, als in den bisherigen Gesamtrechnungen ausgewiesen wird (Wirtschaft und Statistik 2/2016). Aber private Care-Arbeit spielt für diese ökonomische Kennziffer, die als ‘Wohlstandsmaß’ einer Nation gilt, keine Rolle, dabei ist sie das Fundament jeglichen Wirtschaftens. Trotzdem können Unternehmen ganz selbstverständlich darauf zurückgreifen, ohne sich an den Kosten zu beteiligen. Hier zeigt sich, wie eng Care- und Klima-Krise verknüpft sind: in beiden Fällen werden Ressourcen zur individuellen Gewinnmaximierung ausgebeutet, die Folgen aber trägt die Gesellschaft.
Ökonomen und Wirtschaftsweise thematisieren es nur selten: Der Care-Sektor ist der größte Wirtschaftszweig, und auch hier gilt: die bezahlte Pflege- und Fürsorgearbeit wird weltweit zu zwei Dritteln von Frauen geleistet. In Deutschland ist der Frauenanteil sogar noch höher: 2019 lag er in den medizinischen Berufen, im Rettungsdienst und in der Pflege bei 84,2%, in der Kinderbetreuung sogar bei 89,6%. Hinzu kommt, dass die Arbeitsbedingungen und Löhne in den weiblich konnotierten Sorgeberufen mitnichten dem hohen Anforderungsprofil und den vielfältigen Versorgungsleistungen entsprechen, die dort täglich erbracht werden.
Wie kann es sein, dass das reiche Deutschland im internationalen Vergleich eine extrem schlechte Personalbemessung bei den Pflegefachkräften und Hebammen aufweist (verdi 2017) und weit hinter Japan, Norwegen, den Niederlanden oder Belgien liegt? Es ist eine überhebliche Strategie, die nationale Care-Krise mit Gesundheitsfachkräften und unterbezahlten Hausangestellten aus anderen Ländern, oftmals mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus, in den Griff bekommen zu wollen. Die globalen Sorgeketten („Global Care Chains“) haben bereits in der Vergangenheit dazu geführt, dass Gesundheits- und Pflegekräfte abgeworben wurden, die auch in ihren Herkunftsländern dringend benötigt werden („Care-Drain“) oder dass Betreuungskräfte in der sogenannten “24-Stunden-Indoor-Pflege” zum Einsatz kommen, die für diese pflegerischen Tätigkeiten völlig unzureichend qualifiziert sind. Die Folgen sind auch für die hilfe- und pflegebedürftigen Menschen in Deutschland hochproblematisch, was in diesen Tagen deutlicher hervortritt als zuvor: Viele Haushaltsarbeiter*innen kehren wegen der Coronavirus-Pandemie zurück in ihre Herkunftsländer, und es ist derzeit völlig offen, wer die große Zahl an pflegebedürftigen Menschen hierzulande in ihren Privathaushalten weiter versorgen wird.
Obwohl Frauen in Deutschland durchschnittlich eine Stunde pro Tag länger arbeiten als Männer (unbezahlt und bezahlt), gibt es einen erheblichen Gender Pay Gap von aktuell 21% (weltweit 23%). In der ‘Rush Hour’ des Lebens, in der wichtige Entscheidungen wie Partnerschaft, Beruf und Familiengründung getroffen werden, übernehmen Frauen mehr als das Doppelte an gesellschaftlich notwendiger, unbezahlter Care-Arbeit im Vergleich zu Männern: der Gender Care Gap ist im Alter von 34 Jahren mit 110,6% besonders hoch (Klünder 2017). Mütter werden dabei gerne mit dem Vorwurf konfrontiert, sie hätten eine “unglückliche Lebensplanung” gewählt, weil sie sich für Kinder entschieden haben. Auch nach dem beruflichen Wiedereinstieg bleiben sie weiter für die Sorgearbeit zuständig, oft zusätzlich für pflegebedürftige Angehörige, und müssen sich mit Einkommenseinbußen abfinden, die mit einem „unterbrechungsbedingten Humankapitalverlust“ (Galler, 1991) begründet werden. Diese Ungerechtigkeit verstärkt sich in Zeiten von geschlossenen Kitas und Schulen sowie steigenden Krankenzahlen, was zu einer noch größeren Belastung führt. Die Tatsache, dass in den ersten Reaktionen auf die Coronavirus-Pandemie die Bedürfnisse von Kindern völlig übersehen wurden, der Fokus allein auf Gesundheitsfragen und Wirtschaftsinteressen lag, zeigt, dass von Eltern, und vor allem von Müttern, wieder und weiterhin erwartet wird, die Utopie der Vereinbarkeit privat zu lösen.
Am deutlichsten wird die Schlechterstellung von Frauen durch den Gender Care Gap schließlich beim Blick auf die Rentenlücke. Bis zu 75% der heute 35- bis 50-jährigen Frauen werden eine gesetzliche Rente beziehen, die unter dem jetzigen Hartz-IV-Niveau liegt (Boll 2016). Die ungleiche Verteilung und systematische Abwertung von Care-Arbeit schafft folglich eine Ungleichheit in Einkommen, Vermögen, Zeit und Einfluss zwischen Männern und Frauen, und sie vertieft die bestehende globale Ungleichheit zwischen Arm und Reich: Männer besitzen weltweit 50% mehr Vermögen als Frauen. Der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Benachteiligung von Frauen wiederum steht der Gender Lifetime Gap gegenüber: Männer leben im Durchschnitt fünf Jahre kürzer als Frauen, was auch darin begründet ist, dass (Self-)Care nicht Teil des hegemonialen Männlichkeitsbildes ist. Aber an dieser Stelle geht es nicht um eine Schuldzuweisung, auch nicht um ein Aufrechnen der Vorteile und Privilegien einerseits, der Opfer und Benachteiligungen andererseits. Vielmehr geht um ein gleichberechtigtes Miteinander in gelebten familialen und anderen Verantwortungsgemeinschaften in Deutschland und weltweit; es geht um eine faire Verteilung von Care-Arbeit unabhängig von Geschlecht, Einkommen und Herkunft, um Augenhöhe und Respekt!
Wir laden alle Menschen ein, die beruflich, im Privaten oder ehrenamtlich Sorgeverantwortung übernehmen, gemeinsam für einen grundlegenden System- und Wertewandel zu kämpfen und sich mit diesem Ziel zusammen zu schließen. Wir fordern all diejenigen auf, die zur Zeit deutlich spüren, wie sehr sie persönlich von der Sorgearbeit anderer profitieren, Care nicht länger finanziell und ideell klein zu reden, sondern sich solidarisch zu zeigen, indem sie den überfälligen Kampf für mehr Sorgegerechtigkeit auch über die Coronavirus-Pandemie hinaus unterstützen. Care-Arbeit ist nicht nur systemrelevant, sie ist das Fundament unseres Systems!
Die aktuelle Situation im Frühjahr 2020 hat zu einem erzwungenen Innehalten geführt, das bisherige System ist außer Kraft gesetzt. Wenn nun über Lockerungsmaßnahmen und Förderprogramme nachgedacht wird, um die Auswirkungen der Pandemie auf die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche abzumildern, muss die Systemrelevanz der Care-Arbeit die Richtlinie sein. Es kann nicht darum gehen, nach der Pandemie ein System wiederherzustellen, das den aktuellen Herausforderungen nur sehr bedingt gewachsen ist und das un- sowie unterbezahlte Care-Arbeit nicht ausreichend anerkennt.
Wir rufen deshalb Entscheidungsträger*innen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik dazu auf, uns in diesem Anliegen zu unterstützen und sich ihrerseits für eine faire Verteilung von Sorgearbeit, Einkommen und Vermögen und entsprechende Rahmenbedingungen einzusetzen. Wir fordern insbesondere von der Bundesregierung, die bestehenden Gesetze und Vereinbarungen endlich umzusetzen und sich weltweit für die ideelle und finanzielle Anerkennung und eine faire Verteilung von Sorgearbeit stark zu machen. Care- und Klimakrise sowie die aktuellen Erfahrungen der Coronavirus-Pandemie müssen Anlass sein, das heutige Wirtschaftsmodell gründlich zu überdenken und nachhaltig zu verändern!
Forderungen:
I. Anerkennung und Wertschätzung
- Die Abbildung der Wertschöpfung durch unbezahlte Care-Arbeit in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (z.B. Bruttoinlandsprodukt), da sie maßgeblich ist für den gesellschaftlichen Wohlstand.
- Die Entwicklung einer zusammenhängenden Strategie sowohl zur höheren Wertschätzung unbezahlter Sorgearbeit als auch zur Neubewertung und finanziellen Aufwertung von Care-Berufen (SAHGE-Berufen)
- Eine Vereinheitlichung der sozialen Absicherung von privater Care-Arbeit, sei es Kindererziehung, Betreuung oder Pflege, die gleichermaßen in der Alterssicherung anzuerkennen sind. Dafür muss sich die Bundesregierung auch in der Entwicklungszusammenarbeit einsetzen, z.B. über die Einrichtung eines Globalen Fonds für soziale Sicherheit, um (auch) in armen Ländern Renten, Kindergeld und Arbeitslosenunterstützung zu verbessern.
- Die Einführung einer finanziell abgesicherten Familienarbeitszeit und von flexiblen Zeitbudgets für geleistete Care-Arbeit für Kinder, kranke und hilfebedürftige Angehörige, gekoppelt mit einer echten Entgeltleistung (Sorgegeld, z.B. in Höhe des Elterngelds).
- Investitionen in allgemeine Kinderbetreuung, die Betreuung älterer Menschen und die Pflege von Menschen mit Behinderungen sowie der universelle Zugang zu gebührenfreier öffentlicher Bildung, Gesundheitsversorgung, dem Zugang zu Wasser, sanitären Einrichtungen und häuslichen Energiesystemen muss von Regierungen weltweit sichergestellt werden.
II. Faire Verteilung
- Die konsequente Durchsetzung bestehender Gesetze und Leitlinien auf Landes- und Bundesebene insbesondere der Pflege-Charta des BMFSFJ, der UN-Behindertenrechtskonvention und der Empfehlungen des Zweiten Gleichstellungsberichts der Bundesregierung sowie das ‘Nationale Gesundheitsziel. Gesundheit rund um die Geburt’ sowie die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz wie im Koalitionsvertrag vorgesehen.
- Eine geschlechter-, care- und diversitätssensible Pädagogik entlang der gesamten Erziehungs- und Bildungskette. Analog zur Erwerbsbiographie muss der Aufbau einer Care-Biographie als Bildungsziel eingeführt werden.
- Die Unterstützung und Forderung einer gleichberechtigten Arbeitsteilung in Familien und Verantwortungsgemeinschaften durch alternative Erwerbsmodelle, z.B. eine grundsätzliche Erwerbszeitreduzierung und ein Erwerb-Sorge-Modell. Dazu gehört insbesondere, die Steuergesetzgebung (Ehegattensplitting) und unterstützende Maßnahmen (Elterngeld+) sowie eine Ausweitung der nichtübertragbaren (Basis)Elterngeldmonate.
- Entgeltgleichheit zwischen Frauen und Männern unter Berücksichtigung des ursächlichen Zusammenhangs von PayGap und CareGap. Umsetzung der gesetzlich vorgeschriebenen Lohntransparenz.
- Übernahme von Care-Verantwortung durch privatwirtschaftliche Unternehmen. Es braucht anerkennende Maßnahmen und Leistungen, mit der private und innerbetriebliche Sorgearbeit honoriert und der Lebensunterhalt und die Gesundheit von Sorgetätigen gesichert wird.
- Die Lösung der eigenen Care-Krise nicht zum Nachteil anderer Nationen und Gewährleistung und Schutz der Rechte von Sorgetätigen. Ein erster notwendiger Schritt ist die Umsetzung des ILO-Übereinkommen 189 ‘Menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte’.
III. Strukturelle Unterstützung und Rahmenbedingungen
- Abkehr vom Primat der informellen Pflege, stattdessen Ausbau professioneller Unterstützungsangebote, um gemischte Betreuungsarrangements zu ermöglichen, so dass alle eine realistische Chance haben, ihre Erwerbsbiografie auch im Fall von auftretenden Pflegebedarfen fortzusetzen. Dafür müssen kommunale Unterstützungsstrukturen / Anlaufstellen für Care-Arbeit (z.B. nach skandinavischem Vorbild) etabliert und ausgebaut werden.
- Bessere Arbeitsbedingungen in allen Care-Berufen, also zum Beispiel verlässliche Personalbemessung, keine Verdichtung durch Renditeorientierung, Ausbildungsvergütung.
- Abkehr von Fallpauschalen und die Berücksichtigung von Folgekosten / Spätfolgen, die durch unterlassene oder unzureichende Care-Arbeit unter Ökonomisierungsdruck, entstehen. Einpreisung lebenslanger Folgekosten, deren Höhe also nicht in der Verantwortung Einzelner liegt, sondern in der strukturellen Vernachlässigung von Care.
- Einfluss pflegender Angehöriger auf Entscheidungsprozesse: Die Regierungen weltweit müssen die Beteiligung unbezahlter Pflegender und anderer Betroffener an Foren und Prozessen der Politikgestaltung auf allen Ebenen erleichtern und Ressourcen in die Sammlung umfassender Daten investieren, um die Auswirkungen der Politik auf die Pflegenden bewerten zu können. Dazu gehört auch der Einbezug von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen wie z.B. lokalen Frauenrechtsorganisationen.
- Umfassende Aufklärung von Care-Arbeiter*innen über ihre Rechte, insbesondere pflegende Angehörige, transnationale Haushaltsarbeiter*innen und YoungCarers
- Einfacher und legaler Zugang für alle zu haushaltsnahen Dienstleistungen durch Einführung von subventionierten Gutscheinen (wie es bereits im aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgeschrieben ist!), um auch Haushalte mit mittleren und geringen Einkommen zu erreichen und zertifizierte Dienstleistungsbetriebe zu stärken.
- Den ‘Social Impact’ bei der Subventionierung von Unternehmen berücksichtigen und insbesondere bei der Vergabe von Aufträgen, öffentlichen Geldern und Krediten nachhaltige Care- und Umweltschutz-Konzepte zur Bedingung machen. Anreize schaffen für ‘fürsorgliche Unternehmen’ in Bezug auf Natur, Mitarbeitende und Konsument*innen (Corporate Social Responsibility).
Weiterführende Informationen
An der Erstellung und weiteren Unterstützung dieses Manifests waren beteiligt:
- Mara Brückner, Berlin, Kampagnenkoordinatorin Soziale Gerechtigkeit, Oxfam Deutschland e.V.
- Angela Häußler, Gießen/ Heidelberg, Professorin für Alltagskultur und Gesundheit an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
- Uta Meier-Gräwe, Freiburg, ehemalige Leiterin des Lehrstuhls für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaften an der Universität Gießen
- Bettina Metz, Bonn, Geschäftsführerin UN Women Deutschland
- Almut Schnerring, Bonn, Autorin, Journalistin und ‘Equal Care Day’-Initiatorin
- Katja Schülke, Bonn, stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte der Bundesstadt Bonn
- Sascha Verlan, Bonn, Autor, Journalist und ‘Equal Care Day’-Initiator