Was ist intersektionaler Feminismus?
Von den ungleichen Auswirkungen der COVID-19 Krise in Gesellschaften weltweit bis hin zu internationalen Protesten gegen Rassismus und Diskriminierung – die aktuellen Ereignisse zeigen uns, dass wir von Gleichberechtigung weit entfernt sind. Diese Vielzahl an Ungerechtigkeiten zu verstehen und bekämpfen mag sich überwältigend anfühlen. Der intersektionaler Feminismus bietet jedoch eine Herangehensweise, durch die wir einander besser verstehen und eine gerechtere Zukunft für alle anstreben können.
Kimberlé Crenshaw, eine amerikanische Rechtsprofessorin, die den Begriff 1989 prägte, erklärte intersektionalen Feminismus jüngst in einem Interview mit Time als „ein Prisma, um die Art und Weise zu verstehen, wie verschiedene Formen der Ungleichheit oft zusammenwirken und sich gegenseitig verschärfen.“ Ein intersektionaler Ansatz zeigt, wie sich soziale Identitäten von Menschen überlappen. Dabei sammeln sich diskriminierenden Erfahrungen an und verstärken sich. „Wir neigen dazu, über Ungleichheit aufgrund von Rassifizierung zu sprechen, als sei sie getrennt von Ungleichheit aufgrund von Geschlecht, Gesellschaftsschicht, Sexualität oder Einwanderungsgeschichte. Was dabei fehlt ist das Verständnis, dass manche Menschen all diesen Ungleichheiten ausgesetzt sind. Die Erfahrung dieser Menschen ist nicht einfach die Summe ihrer Teile”, sagt Crenshaw.
Ein intersektionaler Feminismus konzentriert sich auf die Stimmen derjenigen, die überlappende, gleichzeitige Formen der Unterdrückung erleben, um die Tiefen der Ungleichheiten und die Beziehungen zwischen ihnen in jedem Kontext zu begreifen.
Die berühmte brasilianische Frauenrechtlerin Valdecir Nascimento sagt: „Der Dialog über die Stärkung der Rechte von Schwarzen Frauen sollte sie ins Zentrum rücken.“ Seit 40 Jahren kämpft Nascimento für Gleichberechtigung. „Schwarze Frauen aus Brasilien haben nie aufgehört zu kämpfen“, sagt sie und weist darauf hin, dass Schwarze Frauen Teil waren der feministischen Bewegung, der Schwarzen Bewegung und anderer progressiver Bewegungen. „Wir wollen nicht, dass andere Menschen für Schwarze Feministinnen reden, weder weiße Feministinnen noch Schwarze Männer. Es ist unerlässlich, dass junge Schwarze Frauen diesen Kampf übernehmen“, sagt sie. „Wir sind die Lösung in Brasilien, nicht das Problem.“
Eine intersektionale Herangehensweise bedeutet auch, die historischen Kontexte, in die Probleme eingebettet sind, zu erkennen. Lange Vorgeschichten von Gewalt und systematischer Diskriminierung haben tiefe Ungerechtigkeiten geschaffen, die einige Menschen von vornherein benachteiligen. Diese Ungleichheiten überschneiden sich gegenseitig, wie zum Beispiel Armut, Kastensysteme, Rassismus und Sexismus, und sie verweigern Menschen ihre Rechte und Chancengleichheit. Die Auswirkungen erstrecken sich über Generationen hinweg.
Sonia Maribel Sontay Herrera ist eine indigene Frau und Menschenrechtsaktivistin aus Guatemala, wo die systematische Diskriminierung von indigenen Frauen seit Jahrzehnten andauert. Herrera spürt die Auswirkungen dieser historischen Ungerechtigkeiten seit sie ein kleines Mädchen war.
Mit zehn Jahren zog sie in eine Stadt, um dort zur Schule zu gehen – eine Gelegenheit, sagt sie, die die meisten indigenen Mädchen nicht bekämen. Jedoch war Herrera gezwungen, ihre Muttersprache K’iche‘ aufzugeben und Spanisch zu lernen. Da das die Sprache der Kolonialmacht war, empfand sie dies als ungerechte Bürde, die ihr als indigene Frau auferlegt wurde. Nach ihrem Schulabschluss stieß Herrera auf der Suche nach einer Anstellung sofort auf Rassismus und sexistische Stereotypen. Da sie eine indigene Frau war, sagten einige, dass sie für sie nur im Haus Arbeit hätten.
„Sie sehen uns als Hausangestellte. Wenn sie einer indigenen Frau begegnen, mutmaßen sie, dass das alles ist, was wir tun können“, erklärt sie und umreißt, wie sie die Ansammlung diverser Formen von Diskriminierung, basierend auf ihrer Identität, erlebt.
„Diejenigen, die am stärksten von geschlechtsspezifischer Gewalt und Ungleichheit betroffen sind, sind auch die am stärksten verarmten und marginalisierten Menschen: Schwarze Frauen und Frauen of Color, indigene Frauen, Frauen in ländlichen Gebieten, junge Frauen, Mädchen mit Behinderungen, gender-nonkonforme und transgender Jugendliche“, legt Majandra Rodriguez Acha dar, eine Jugendleiterin und Kämpferin für Klimagerechtigkeit aus Lima, Peru. Es sei kein Zufall, betont sie, dass marginalisierte Gemeinschaften am stärksten betroffen seien von Naturkatastrophen und den verheerenden Auswirkungen des Klimawandels.
Probleme, die von Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität zu ungleichen Belastungen wegen des Klimawandels reichen, scheinen auf den ersten Blick voneinander unabhängig. Aber ein intersektionaler Feminismus zeigt die Verbindung zwischen allen Kämpfen für Gerechtigkeit und Befreiung auf. Er zeigt uns, dass der Kampf für Gleichberechtigung nicht nur geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten angeht, sondern, dass alle Formen der Unterdrückung abgeschafft werden müssen. Er dient als Rahmen für integrative, solide Bewegungen, die überlappende Formen von Diskriminierung gleichzeitig auflösen wollen.
Ein intersektionaler Feminismus ist heute wichtig, denn:
Die Auswirkungen von Krisen sind nicht einheitlich.
Länder und Gemeinschaften rund um die Welt stehen vor vielfältigen, sich verschärfenden Herausforderungen. Auch wenn sich die Zusammensetzung dieser Probleme von Ort zu Ort unterscheidet, haben sie doch gemeinsam, dass sie bereits bestehende Bedürfnisse nach Unterkunft, Nahrung, Bildung, Pflege, Anstellung und Schutz verstärken.
Dennoch gelingt es denen, die auf diese Krisen reagieren, oft nicht, die Schwächsten zu schützen. „Wenn du im Alltag unsichtbar bist, dann wird in einer Krisensituation nicht an deine Bedürfnisse gedacht, geschweige denn, auf sie eingegangen“, sagt Matcha Phorn-In, eine lesbische, feministische Menschenrechtlerin aus Thailand. Sie setzt sich dafür ein, in Krisen die besonderen Bedürfnisse von LGBTIQ+ Menschen nicht zu vergessen. Viele von ihnen sind indigen.
Die Corona-Pandemie hat viele seit langem bestehende Ungerechtigkeiten und jahrzehntelange diskriminierende Praktiken verschärft. Diese führen zu ungleichen Entwicklungsverläufen.
Anstatt unsere Kämpfe zu zersplittern, wirkt die Berücksichtigung der Erfahrungen und Herausforderungen, denen verschiedene Gruppen ausgesetzt sind, vereinigend. Wir sind besser in der Lage, die anstehenden Probleme zu verstehen und dadurch Lösungen zu finden, die allen helfen.
Wenn wir durch eine intersektionale feministische Linse blicken, sehen wir, wie verschiedene Gemeinschaften unterschiedliche, miteinander verbundene Probleme gleichzeitig bekämpfen. In Solidarität miteinander zu stehen, Machtstrukturen in Frage zu stellen und sich gegen die Ursachen von Ungleichheiten auszusprechen, sind entscheidende Maßnahmen, um eine Zukunft zu erschaffen, die niemanden im Stich lässt.
„Wenn du Ungleichheit als ein Problem von „denen“ oder den „bedauerlichen Anderen“ ansiehst, dann ist das ein Problem“, sagt Crenshaw. „Wir müssen offen dafür sein, all die Arten und Weisen zu betrachten, wie unsere Systeme diese Ungleichheiten reproduzieren, und das schließt sowohl die Privilegien ein als auch das Leid.”
Eine neue 'Normalität' muss für alle fair sein.
Da Krisen die strukturellen Ungleichheiten, die unser Leben prägen, offenbaren, sind sie auch Momente großer Neuanfänge: Katalysatoren für den Wiederaufbau von Gesellschaften, die allen Menschen Gerechtigkeit und Sicherheit bieten. Sie liefern die Chance, ‚normal‘ neu zu definieren, anstatt zur Tagesordnung überzugehen.
Eine intersektionale feministische Herangehensweise an die heutigen Krisen hilft uns, die Chance zu ergreifen, bessere, stärkere, belastbare und gleichberechtigte Gesellschaften wiederaufzubauen.
„COVID-19 hat uns […] eine seltene Möglichkeit geboten“, sagt Silliniu Lina Chang, Präsidentin der Samoa Victim Support Group, die sich dafür einsetzt, Opfern häuslicher Gewalt während der Pandemie verbesserte Leistungen zu bieten. „[Es ist] Zeit für uns alle, wieder auf null zu stellen. Denkt außerhalb eurer Komfortzone und schaut über den Tellerrand hinweg zu den Nachbar*innen, die in Not sind.“